Die Auswahl der diesjährigen Preisträgerin wirft unvermeidlich die Frage nach Europa auf, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft. Denn es war die Rückkehr der baltischen Staaten in das politische Europa, das den wundersamen Weg der Emigrantin Vike-Freiberga zur lettischen Präsidentin ermöglicht hat.
Die Erweiterung der EU um zehn neue Mitglieder wurde allerorts als historischer Brückenschlag gefeiert, der die aufgezwungene Spaltung Europas beendete.
Aber mit diesem großen Sprung nach vorn wuchsen auch die inneren Unterschiede in der Union, und mit ihnen die internen Spannungen – nicht nur mit Blick auf die Verteilungskämpfe, wie sie dieser Tage im Gezerre um den Haushalt deutlich werden.
Die mittel-osteuropäischen Staaten haben in vieler Hinsicht auch eine andere geschichtliche Erfahrung und andere politische Orientierungen in die Gemeinschaft mitgebracht.
Die Spaltung der EU angesichts des Irak-Kriegs war eine erste Demonstration dieser Unterschiede, sehr zum Ärger nicht nur von Monsieur Chirac, der sich über die Unbotmäßigkeit der Neulinge echauffierte.
Eine zweite Erfahrung der Ungleichzeitigkeit konnten wir zum 60. Jahrestag der Kapitulation Hitler-Deutschlands machen.
Zwischen West- und Osteuropa gibt es eine Asymmetrie der öffentlichen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und sein Ende. Während bei uns die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen betont und der 8.Mai 1945 seit der durchschlagenden Rede Richard von Weizsäckers als „Tag der Befreiung“ interpretiert wird, ist die politische Erinnerung in Mittel-Osteuropa durch die Doppelerfahrung von nationalsozialistischer und stalinistischer Herrschaft geprägt.
Sie, Frau Präsidentin, haben diese Ambivalenz in einer Erklärung vom Januar dieses Jahres präzise formuliert, und zwar ohne jede Spur einer Relativierung der nationalsozialistischen Untaten.
Sie haben auch an die „lokalen Verbündeten“ erinnert, die bei der Ausrottung der Juden in Lettland mit Hand anlegten und sich der faschistischen Besatzungsmacht anschlossen.
Gleichzeitig haben sie ausgesprochen, dass der Zusammenbruch des Deutschen Reichs „nicht zur Befreiung meines Landes geführt hat. Vielmehr wurden die baltischen Staaten einer erneuten brutalen Besatzung durch ein anderes totalitäres Regime, der Sowjetunion, unterworfen.“
Sie nehmen damit den Totalitarismus-Begriff von Hannah Arendt auf, der von weiten Teilen der politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit des Westens als eine Art theoretische Fortsetzung des Kalten Krieges verworfen worden war. Das galt vor allem für die Linke. Erst spät hat sich bei uns eine andere, explizit antitotalitäre Linke herauskristallisiert, die sich mit den antikommunistischen Freiheitsbestrebungen in Mittel-Osteuropa solidarisierte.
Mit der doppelten Diktaturerfahrung der mittel-osteuropäischen Länder ist auch ein geschärfter Sinn für eine Politik des „Appeasement“ verbunden, die vor totalitären Gefahren die Augen verschließt. Das Münchner Abkommen von 1938, mit dem die Westmächte versuchten, dem Krieg mit Hitler aus dem Weg zu gehen, ist in Zentral- und Osteuropa sehr viel stärker präsent als bei uns, ebenso wie das Abkommen von Jalta, mit dem die westlichen Demokratien der Sowjetunion die Herrschaft über halb Europa zubilligten.
Die andere historische Perspektive führt auch zu anderen außen- und sicherheitspolitischen Optionen. Man muss vermutlich auf diese Ungleichzeitigkeit historisch-politischer Erfahrungen zurückgehen, um das Votum Lettlands oder Polens für den Irak-Krieg und die Allianz mit den USA zu verstehen, auch wenn die Geschichte kein hinreichender Ratgeber für aktuelle politische Entscheidungen ist.
Aber ohne Bewusstsein für die spezifischen Erfahrungen der mittel-osteuropäischen Länder, die erst 1989/90 wieder als souveräne Nationen auf die Bühne der europäischen Politik zurückkehrten, wird sich keine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln lassen. Das wird am Beispiel der Russland-Politik überdeutlich. Die Schrödersche „Achse Paris-Berlin-Moskau“ ließ in Zentraleuropa und im Baltikum alle Alarmglocken läuten.
Sie, Frau Präsidentin, sind als einziges baltisches Staatsoberhaupt der Einladung zur Feier des Sieges am 9. Mai dieses Jahres nach Moskau gefolgt, als Geste des Respekts und als Angebot zur Freundschaft. Gleichzeitig haben Sie die russische Regierung aufgefordert, Worte des Bedauerns über das Unrecht zu finden, das die sowjetische Okkupation über die Völker in der östlichen Hälfte Europas gebracht hat; und Sie zögern nicht, den Rückfall in autoritäre Herrschaftsmethoden zu kritisieren, der unter Präsident Putin eingesetzt hat.
Sie insistieren damit auf einer Politik der Freiheit, die nicht der kleinen Münze pragmatischer Vorteile geopfert werden darf, wenn die Gemeinschaft der Demokratien sich nicht selbst aufgeben will. Politik ist eben mehr als das Aushandeln des kleinsten gemeinsamen Nenners zwischen unterschiedlichen Interessengruppen. Auch das kann man bei Hannah Arendt lernen.
Otto Kallscheuer hat in der letzten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Hannah Arendt mit dem folgenden, ebenso anrührenden wie prophetischen Satz zitiert: „Die einzige Hoffnung“, schrieb sie am 9. Juni 1961 an Karl Jaspers, „bleibt doch eine Föderation Europa, ganz gleich, wie klein dieses Europa erst einmal ist, eine „federation for increase“, wie es der Cromwellsche Republikaner James Harrington so schön genannt hat, an die sich andere dann später gleichberechtigt anschließen können.“
Wir sollten heute, angesichts des um sich greifenden Kleinmuts in Europa, diese Vision erneuern und weiterführen. Nicht ein europäischer Superstaat ist das Ziel, in dem die politische, kulturelle und soziale Vielfalt Europas möglichst eingeebnet wird, aber auch kein Rückfall in eine erweiterte Freihandelszone. Es geht um eine europäische Föderation, die Vielfalt und gemeinsame Handlungsfähigkeit verbindet.
Für diese Idee von Europa hätte die Jury keine bessere Preisträgerin finden können.